Loslassen

Es ist noch nicht einmal Vollmond.

Hätte er einen Begriff von Kalenderrechnung, würde er etwas amüsiert feststellen, dass es in der Tat fünf Tage nach Neumond ist. Und hätte er einen Begriff von Spiegeln, wüsste er dass der Wolf, der ihn gerade noch aus dem Spiegel im Flur anblickte, sein eigenes Abbild ist. Aber der Wolf im Spiegel interessiert nicht. Er riecht ihn nicht, er hört ihn nicht. Ein seltsames Spiel, das seine Bewegung imitiert, aber nicht lebt. Etwas, dessen Funktion er früher einmal kannte, das, wie er sich erinnert, mit Emotionen der Suche und manchmal der Verzweiflung zusammenhängt. Ein Spiel, das ihn oft geärgert hat, das er nicht mehr versteht und ihm gleichgültig geworden ist. Endlich gleichgültig.

Die Luft, die er atmet, riecht eigenartig. Sie riecht nach einem anderen Wesen, nach dem Wesen, das er einmal war. Und doch nicht war. Er war nie jemand anderes, er ist nichts anderes geworden. Sein Körper war ein anderer, aber er hat ihn nicht gefühlt. Sein Leben, es war ihm fremd. Und nun, nun sitzt er in dieser Kulisse seiner früheren Existenz, atmet ihre Gerüche, die seine Sinne fast betäuben.

Durch die Terrassentür zieht ein kühler Hauch Herbstluft. Er hatte sie geöffnet, kurz bevor das Menschliche in ihm verschwand. Bevor er sich fallen ließ in seine neue Welt. Und als er in der geöffneten Tür stand, der nächtliche Wind durch sein Fell strich, hat er los gelassen. Dies war, erinnert er sich, der Zeitpunkt seiner Verwandlung. Von etwas, das er heute nicht mehr begreift, zu dem, was er jetzt ist.

Die körperlichen Veränderungen, sie begannen früher. Erst nicht ernst genommen, dann kaschiert. Schließlich, als sie nicht mehr zu verstecken waren, verkroch er sich in seiner Wohnung.

Es macht ihm zu schaffen, dass er sich eigentlich hätte freuen müssen: endlich dem näher zu kommen, was er fühlte. Schon immer fühlte. Aber je mehr im bewusst wurde, was mit ihm passierte, je mehr sich sein Körper veränderte, wuchs die Angst. Angst davor, dass er als Wolfsmensch nicht mehr in der Gesellschaft klar kommen würde. Davor, dass sein Verwandlung vollständig sein würde und dass das Leben als Wolf seinen Vorstellungen und Träumen ganz und garnicht entsprach. Davor, dass er sich selbst verlieren würde. Fern und befremdlich wirken diese Ängste jetzt. Und er spürt, dass er nur in diesen Wochen der Angst nicht mehr er selbst gewesen war.

Vielleicht lag es auch daran, dass es keinen erkennbaren äußeren Anlass gab. Gut, da waren diese Träume seit frühster Kindheit, in denen er die Welt aus der Perspektive sah, die ihm jetzt alltäglich ist. Gut, da gaben es die unzähligen Versuche, mit Meditation und seltsamen Riten eine Verwandlung herbeizuführen. Aber er wusste, dass sie seine Träume nicht Realität werden lassen. In seinen Träumen konnte er im Körper eines Wolfs leben, ihn von der Nasenspitze bis zum Schwanzende spüren -- und er fühlte sich wirklicher, echter an als er seinen menschlichen Körper je gefühlt hat. So wie sich sein Körper jetzt anfühlt. In der Erinnerung des Wolfs sind es Episoden seiner früheren Existenz, in denen er sich von dieser seltsamen, fremden Welt erholen konnte. In der er, für eine kurze Zeit, wirklich er selbst sein konnte.

Und dann passierte es doch. Er erinnert sich, wie er in den letzten Tagen des August Urlaub an der Nordsee machte. Wie es ungewöhnlich warm war und er sich, durch den angenehmen Seewind unvorsichtig geworden, nur mit Badehose bekleidet an einer Wattwanderung teilnahm. Und sich dabei einen gewaltigen Sonnenbrand holte. Die Haut war am ganzen Körper entzündet, und nach wenigen Tagen konnte er die obere Schicht in großen Fetzen einfach abziehen. Die Entzündung ging zurück und es blieb nach einigen Wochen nur noch eine leichte Rötung. Und wäre da nicht dieser kleine Knorpel am Steissbein gewesen, die Kieferschmerzen und die weiter vorstehenden, sich deutlich unter der Haut abzeichnenden Rippen, er würde es heute noch für einen Sonnenbrand halten. Doch zu der Zeit nahm er es nicht richtig wahr, zu sehr war er mit seinem Job beschäftigt, zu wenig hat er geträumt.

Dann aber wurde die Entzündung seiner Haut wieder stärker. Er erinnert sich an einen Mann im weißen Kittel, der ihm mit einer Spritze Blut abnimmt. Der Flüssigkeiten auf seine Haut tropft. An den Zettel, für den er eine Tube mit einer weißen Salbe bekommt. Daran, dass er die Salbe auf seinem Körper verteilt. An Fieber, einen anderen Mann im weißen Kittel, an einen gelben Zettel, an die dunklen Striche unter den Finger- und Zehennägeln, an austrocknende Haut.

Mit der Haut stieß sein Körper auch alle Haare ab. Teils fielen die abgestorbenen Hautschichten von selbst ab, teils zog er sie flächig mit den Fingern ab. Der Juckreiz war unerträglich. Unter den alten Schichten kam eine dunklere, festere Haut zum Vorschein, kaum sichtbar überzogen mit feinsten, nur ein, zwei Millimeter langen hellen Haaren. Schon beim ersten Versuch, sich mit den Fingern von seiner quälenden alten Haut zu befreien, fielen die Nägel von Daumen und Zeigefinger ab. Er betrachtete seine Hände. Leicht und ohne Schmerzen konnte er alle anderen Fingernägel abheben. Was vorher als dunkler Strich durchscheinte, erkannte er nun als neuen Nagel, schwarz, viel schmaler und spitz zulaufend. Noch waren seine neuen Fingernägel, seine Krallen, noch vom alten Nagelbett geschützt. Er drückte den Zeigefinger gegen den Daumen, und spürte die Spitze der Kralle. Als er seine Füße betrachtete, stellte er fest, dass die Zehennägel bereits abgefallen waren und die Krallen schon etwas über die Kuppen herausragten. Ihm viel auf, dass seine großen Zehen waren ohne Krallen waren. Er musste etwas länger hinsehen, um festzustellen was sich noch geändert hat. Seine großen Zehen, seine Daumen waren kürzer. Hände und Füße wirkten schmaler.

Zum ersten mal wurde ihm nun bewusst, dass er nicht an einer Hautkrankheit litt. Sondern dass sich sein ganzer Körper veränderte, nicht mehr alleine Mensch war, sondern auch Tier. Ein gewaltiger Adrenalinschub ließ ihn fast gegen die Wand springen. Beinahe wurde ihm schwarz vor Augen, er konnte sich noch quer auf einen Stuhl retten. Nachdem er ein paar mal tief durchgeatmet hatte, begann er aufgeregt seinen Körper zu untersuchen. Seine Füße und Hände wirkten, abgesehen von den Krallen, noch weitestgehend menschlich. Seine Beine wirkten genau betrachtet irgendwie anders, aber er konnte nicht erkennen, was sich geändert hat. Die Arme schienen sich dagegen nicht verändert zu haben. Auf seinen Bauch blickend stellte er fest, dass dieser nicht nur an Umfang verloren hatte, sondern auch der Brustkorb weiter nach unten hing. Nach einem Blick in die Unterhose war er beruhigt, dass dort noch, abgesehen von der fehlenden Schambehaarung, alles wie zuvor war. Prüfend griff er nach seinem Steißbein. Eine längliche Fortsetzung war dort gewachsen, nur wenig beim Sitzen störend. Schwach erinnerte er sich an den knorpeligen Auswuchs, den er vor Wochen dort gefühlt hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, bis gerade eine Veränderung festgestellt zu haben.

Er ging ins Badezimmer und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Am auffälligsten waren die nun fehlenden Haare und er fragte sich, ob er jemals wieder welche tragen würde. Eigentlich müsste sein Kopf jetzt höher wirken, aber er hatte eher einen gegenteiligen Eindruck. Seine Kiefer dagegen wirkten schmaler und leicht nach vorstehend. Aber vielleicht waren auch seine Augen etwas weiter eingefallen. Was auch immer sich verändert hat, die neuen Konturen wirkten eigenartigerweise auf ihn vertrauter als das Gesicht, dessen Spiegelbild er gewohnt war.

Wer würde die Veränderungen bemerken? Fast alles ließe sich durch passende Kleidung kaschieren. Seine Hand betrachtend stellte er fest, dass die Krallen an seinen Fingern nicht so stark auffallen würden. Eher schon die Veränderungen in seinem Gesicht, oder lag das nur an der Glatze? Er holte ein Baseball-Cap und setzte es auf. Erleichtert bemerkte er, dass sein Gesicht schon einen Schritt weiter entfernt vom Spiegel nur umerklich verändert wirkte.

Der Wolf erinnert sich an all dies nur fragmentarisch. An seine Emotionen in jenen Tagen aber noch genau. Eine schreckliche Mischung aus Aufgekratztheit, bohrender Fragen und Nächten ohne Schlaf. Er ging wieder arbeiten, aber die Arbeit verlor immer mehr an Bedeutung für ihn, und es wurde immer schwerer, sich seiner Aufgaben zu erinnern. Seine Kollegen wurden ihm immer fremder, und er ihnen auch. Also nahm er nach zwei quälenden Wochen seinen Resturlaub für das Jahr. Er hat die Firma danach nie wieder betreten.

Er stellte fest, dass ihm wieder Haar wuchs. Heller, leicht beiger, weicher, dichter Flaum. Am ganzen Körper. Angezogen war nicht viel zu erkennen, sein Gesicht befreite er mit Rasierapparat und Bartschere. Er betrachtete seine Hände. Sie sahen mehr aus wie Pfoten als wie menschliche Hände. Die Daumen waren deutlich zurückgebildet. Wenn er die Hand flach auf den Tisch legte, berührten seine Krallen die Tischplatte. Die Haare auf dem Handrücken waren kurz, zwischen den Fingern hell und mittellang. In der Handinnenfläche waren feste, lederige Hautflächen, die nicht von Haaren bedeckt waren. Noch waren die Hände aber fast normal zu gebrauchen. Weiter fortgeschritten waren da seine Beine und Füße. Er konnte beim Laufen nicht mehr mit dem ganzen Fuß auftreten sondern lief hauptsächlich auf Zehen. Auch waren die großen Zehen kaum noch zu erkennen, zurückgebildet zu einer leichte Verdickung. Aber er konnte noch Schuhe benutzen.

Er traute sich kaum noch aus der Wohnung. Einige Tage später beschloss er, für längere Zeit das letzte mal die Wohnung zu verlassen. Also rasierte er sein Gesicht gründlich, zog sich Handschuhe und einen langen Mantel an und setzte sich eine lange, ins Gesicht gezogene Mütze auf. Und ging einkaufen. Er kaufte Gemüse, Obst und Fleisch für drei Monate. Ein Großteil landete hauptsächlich unverpackt in der Gefriertruhe. Obwohl niemand etwas bemerkte fühlte er sich unwohl, beobachtet, stigmatisiert. Völlig unbegründet, denn auch wenn seine Stimme etwas kratzig wirkte und er schon anfangen musste, nach Worten zu suchen, merkte niemand etwas von seiner Lage.

An die folgenden Wochen erinnert er sich nicht mehr. Nicht mehr, wie aus dem weichen Flaum ein flauschiges Fell wurde. Dass aus der Verlängerung des Steißbeins ein Schwanz wurde und er Löcher in seine inzwischen leicht zulangen Hosen schnitt, als sich der Schwanz nicht mehr in der Hose verstecken ließ.

Seine Zähne fielen innerhalb von zwei Tagen aus. Er registrierte es kaum. Mit dem Kiefer wuchs auch das Nasenbein in die Länge. Seine Ohren veränderten die Form, wurden länger und leicht spitz zulaufend, scheinbar unbemerkt von ihm. Lethargisch krempelte er die immer mehr zu lang werdenden Hosenbeine und die Ärmel seiner Sweatshirts täglich ein paar Millimeter weiter hoch. Und auch als Schultern und Hüfte begannen, sich umzuformen, lebte er wie in Trance. Schlafen, anziehen, essen, schlafen, essen, ausziehen, schlafen.

Und dann, eines Abends, wacht er aus seiner Lethargie auf. Stellt sich nackt vor den großen Spiegel im Flur. Ist nur mit Mühe in der Lage, aufrecht stehend das Gleichgewicht zu halten. Und sieht, mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen, einen humanoiden Wolf. Und zum ersten mal betrachtete er seinen veränderten Körper ganz bewusst. Stück für Stück. Seine blauen Augen -- sie waren das einzig unveränderte an ihm, stellte er fest. Seine Stirn ist flacher und seine Ohren groß und mit Fell bewachsen. Ihre Bewegung schien seine Stimmungen zu reflektieren. Seine Schnauze hatte fast die Länge derer eines Wolfs. Als er sie öffnete erblickte er das eindrucksvolle Gebiss eines Beutegreifers. Er glaubte sich schwach an den Verlust seines menschlichen Gebisses zu erinnern. Aber wie lange war das her?

Sein Blick wandert auf seinen Oberkörper. Ein mächtiger Brustkorb streckte sich ihm entgegen, kontrastiert von seinem dünnen, kurzen Bauch. Das dichte, nun feste Fell ist am Bauch weicher und länger, um den Hals dicht und voluminös, vom Rücken her kommend mittellang und struppig. An den Hinterläufen wie auch an den Vorderläufen bis über die Vorderpfoten kurz. Er dreht sich um, um seinen Rücken zu betrachten, verliert dabei fast das Gleichgewicht. Über die Schulter blickend sieht er einen langen, buschigen Schwanz aus dunklem braun-grauem Fell, das sich über die Wirbelsäule fortsetzt und zu den Seiten heller wird. Die Läufe und sind kürzer als menschliche Arme und Beine. Der Wolfsmensch braucht eine Weile, bis er feststellt, wieso seine Hinterläufe noch kürzer wirken als sich ihre Länge tatsächlich geändert hat. Die Unterschenkel sind überproportional verkürzt und dünn, von vorne mit braunem Fell bewachsen, das nach hinten heller wird. Seine weißen Pfoten dagegen sind kaum kürzer als seien früheren Füße, durch den fehlenden großen Zeh aber schmaler und das Fußgelenk stark verkleinert. Er probiert, auf dem ganzen Fuß zu stehen, doch sitzt er dabei fast auf seinem Hinterteil. Mit Mühen stellt er sich wieder auf seine Zehen, richtet sich mit seinen Vorderpfoten an der Wand abgestützt wieder auf. Obwohl sein Magen rebelliert und sein Kreislauf spinnt, versucht er frei zu stehen, das Gleichgewicht zu wahren. Eine seltsame Euphorie überflutet ihn immer wieder, nur um im nächste Moment wieder abzuebben.

Und doch kann er den Blick nicht abwenden von dem Wesen, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickt. Ein Wesen, unverkennbar menschlich, unverkennbar wölfisch. Kompakt und elegant, aber mit deutlicher Bevorzugung des Wölfischen. Die Hinterläufe, gestaltet für ein Leben auf vier Pfoten, der massive und doch elegante Brustkorb, an dem seine Oberarme mit ihrer flachen Muskulatur fast anliegen. Vergeblich versucht er, sie mehr als ein paar Zentimeter vom Körper abzuspreizen. Auch die Drehbarkeit im Ellbogen ist eingeschränkt. Er betrachtet seine Vorderpfoten. Vom Daumen ragt nur noch die Kralle aus dem Fell der inneren Handkante, nahe des Handgelenks. Um seine Innenhand betrachten zu können, muss er den Arm ganz ausstrecken und seinen Kopf weit vorstrecken. Die festen lederigen Flächen in seiner Hand sind verdickt und schwarz pigmentiert. Der Wolfsmensch stellt fest, dass seine Finger schlechter spreizbar sind, sich dafür aber leicht und weit nach nach außen biegen lassen, wenn er sich mit ihnen an der Wand abstützt. Das flaue Gefühl wird unterdessen plötzlich stärker; als er versucht, sich aufzurichten, wird ihm fast schwarz vor Augen. Erschöpft blickt er an sich herunter, mit seiner Schnauze auf dem Brustfell, bemerkt die mit kurzem Fell bewachsene Hauttasche, die seinen Penis schützt, bemerkt die Hüfte, menschlich genug, mit etwas Geschick einen aufrechten Gang zu ermöglichen, so wölfisch, den bequemen Gang auf vier Pfoten einzufordern.

Die Benommenheit des Wolfsmenschen wird stärker, übel ist ihm, aber er kann nicht erbrechen. Immernoch gegen die Wand gestützt, zwischen den Vorderläufen der Spiegel, atmet er hechelnd durch den Mund, der heisse Atem lässt den Spiegel beschlagen, der Speichel läuft ihm über die Zunge und tropft auf den Boden. Mit letzter Kraft den Kopf gehoben, blickt er nochmal in den Spiegel, der seine blauen menschlichen Augen reflektiert. Erschöpft sackt er in sich zusammen und verliert das Bewußtsein.

Die Situation, sein damaliges Aussehen ist dem Wolf noch genau in Erinnerung. Genauso wie das schreckliche Gefühl nach dem Erwachen aus der Ohnmacht, die Schwankungen zwischen widerstrebenden Gefühlen und eine Angst, die er heute nicht mehr kennt. Eine Angst vor etwas Abstraktem: seiner Zukunft über die nächsten paar Tage hinaus. Eine Frage, die sich so nur Menschen stellen.

Einerseits war er der Erfüllung seines Verlangens näher als er sich je erhofft hat. Ein Wolfsmensch, der perfekte Kompromiss wenn er doch kein richtiger Wolf sein kann. Und doch konnte er so nicht glücklich sein. Ein Teil von ihm war immernoch Mensch. Und als solcher muss er mit und in der menschlichen Gesellschaft leben. Aber man wird ihn nicht lassen. Er wird ein Ausgeschlossener sein, man wird ihn einsperren, mit Silberkugeln auf ihn schießen, ihn im Namen der Wissenschaft sezieren, als Freak ausstellen, ihn...

Unfähig zu weinen, unfähig sich ins Schlafzimmer zu schleppen, rollt er sich im Flur zusammen und liegt dort stundenlang wie gelähmt mit kreisenden Gedanken, bis er schließlich vor Erschöpfung einschläft.

Als er aufwacht ist es Nacht. In seiner Wohnung ist es unerträglich stickig. Seine Nase ist wie gelähmt. Benommen schleppt er sich zur Terrassentür, dreht den Griff mit den Vorderpfoten und zieht die Tür auf. Stützt sich am Türrahmen ab und lehnt sich aus der Tür. Frische, kühle Luft streicht über sein Fell. *Sein* Fell. Tief atmet er durch. Sein Fell. Seine Nase. Seine Schnauze. Seine Fänge. Seine Pfoten. Sein Schwanz. Vor ihm, vor ihm liegt seine Zukunft. Hinter ihm, hinter ihm liegt -- was eigentlich? Was war ich? Uninteressant. Vorbei. Was bin ich? Er geht, an der Wand abgestützt, in den Flur. Schaltet die kleine Lampe ein. Betrachtet sich im Spiegel. Betrachtet seine blauen Augen, die nicht mehr waagerecht wie die eines Menschen, sondern leicht schräg gestellt sind. Wieviel Mensch ist noch in dem Wolf? Er beobachtet, wie die Iris sich weitet und das Weiße verdrängt. Wie dabei die Farbe von Blau nach Braun wechselt. Wieviel Mensch war er jemals? Der Wolf kniet vor den Spiegel. War er jemals Mensch? Er stützt sich auf seine Vorderläufe. War er nicht schon immer Wolf? Langsam stellt er sich auf alle Viere. Nichts an an seinem Abbild erinnert an einen Menschen. Eine Weile betrachtet er den Wolf im Spiegel noch. Doch das Spiegelbild ist nur ein Bild, Teil eines Spieles das er nicht versteht.

Langsam, immer noch etwas unsicher auf den Beinen, geht der Wolf auf die offene Terrassentür zu. In der Tür bleibt er kurz stehen, wittert die kühle Herbstluft, den Geruch von Menschen, Kaninchen, Vögeln, Ratten. Und macht sich geräuschlos auf den langen Weg in eine Gegend, von der er nicht mehr weiß, dass die Menschen sie Nationalpark nennen. Aber er sich erinnert, dass sie für ihn sicherer ist als dieser Vorort oder die umliegenden Forste.

Copyright, 2002 by Jörg Reuter