Zum Vergleich: Werwölfe in Europa

o'wolf schreibt:

Den folgenden Abschnitt habe ich mit größten Bedenken übersetzt. Weniger wegen der scheinbaren Eloquenz des amerikanischen Originals, die schnell in sich zusammenfällt wenn man mal etwas genauer hinsieht (was beim Übersetzen nun einmal unumgänglich ist). Der Text enthält aber schon in den Bereichen, die ich verifizieren konnte, so viele Verallgemeinerungen, unzulässige Verkürzungen und Fehler, aber schlimmer noch Durchmischungen zwischen Bericht und persönlichen Glauben des Autors, dass ich meine Zweifel habe, ob die fernöstlichen Sagen korrekt dargestellt sind. An den Stellen, wo es richtig unerträglich wurde, habe ich behutsam aus Tatsachenbehauptungen Vermutungen gemacht, ohne die Aussage des Textes zu verändern.

Es sieht fast so aus, als ob hinter dieser "Werwolf"-Darstellung ein Konzept steht, das aus Europa oder zumindest Sibirien importiert wurde. Aber es gibt in einigen Regionen Japans (wie Shikoku) auch den Glauben, dass besonders haarige Menschen von solchen Wölfen abstammen die einst menschliche Gestalt annahmen (den schon erwähnten stark behaarten Ainu wird analog dazu eine Abstammung von Hunden nachgesagt). Zum Vergleich: alle europäischen Völker kennen Werwolf-Sagen, von der Antike bis mindestens zum 17. Jahrhundert. Männer und Frauen waren darin fähig, sich in Wölfe zu verwandeln, zeitweise oder ständig, freiwillig oder durch den Fluch des Teufels oder einer Hexe. Manchmal war die Verwandlung eine Strafe für Todsünden oder den Verzehr von Menschenfleisch. Diese erzwungene Metamorphose dauerte oft sieben oder neun Jahre bis zur Rückverwandlung. Die freiwillige Verwandlung wurde meistens durch das Tragen eines Wolffells, oder eines Gürtels aus diesem, erreicht und durch das ablegen dieser Kleidung beendet. Aber auch andere Ursachen waren nicht unbekannt, insbesondere Zaubertrunke, die mit dem Körper des Tieres zu tun hatten. Herodotus erzählt von den Neuri, einem osteuropäischen Volk, das sich so jedes Jahr für ein paar Tage verwandelte. Werwölfe trieben sich im Allgemeinen nur Nachts herum und erhielten ihre menschliche Gestalt mit Tagesanbruch zurück.

Chaki Chan schreibt:

Hierbei sollte man vielleicht anhängen das man zwischen den "antiken" und "modernen" Werwölfen unterscheiden sollte. Antike Werwölfe waren "wirkliche" Wölfe, gingen auf 4 Beinen und waren meist nur etwas größer als normale Wölfe. Der moderne Werwolf, der zweibeinige, menschenähnliche, wurde erst so ca. 1900 "erfunden" und ist eine Hollywood-Erfindung.

o'wolf schreibt:

Die (wenigen) bekannten antiken Beschreibungen berichten in der Tat von vierbeinigen Werwölfen, was aber möglicherweise spezifisch für den griechischen (und später römischen) Kulturraum sein könnte. Die spätere Niederschrift der Berserker-Sage und frühere theriomorphe Darstellung von alt-ägyptischen Göttern lassen vermuten, dass beide Darstellungen verbreitet waren. Die Darstellung im Mittelalter ist komplett uneinheitlich: die Texte geben meistens keine Hinweise auf das Aussehen -- es gibt Holzschnitte und Kupferstiche, die auch deutlich anthropomorphe (oder völlig menschliche) Werwölfe zeigen. Im Web sind leider nur noch wenige Bilder aus dieser Zeit zu finden, zum Beispiel im Bildarchiv Hexen, Abb. 5.42, 5.64 und 5.65.

Der Hauptgrund dafür ein Werwolf zu werden war die Befriedigung eines Hungers nach Menschenfleisch oder eines ähnlich abscheulichen Verlangens. Ein Autor schrieb 1628: "Die Werwölfe sehen nicht nur aus wie Wölfe, ihre eigenen Gedanken haben Gestalt und Wesen der Wölfe. Und sie benehmen sich genau wie Wölfe in ihrem Kümmern und ihrem Töten." Besonders Frankreich wurde im 16. Jahrhundert von Werwölfen heimgesucht, es gab zahllose Gerichtsverfahren wegen Mord und Kannibalismus in der Gestalt eines loup garou. In England war der Wolf völlig ausgerottet, die Anklage gegen Hexen lauteten dort daher nicht, dass sie zu "warwoolfes" werden, sondern eher zu Katzen, Hasen und Wiesel. Aber auch in Preußen, Livland und Litauen richteten Werwölfe im 16. Jahrhundert angeblich erheblich mehr Schaden an als wahre und natürliche Wölfe.

Allerdings waren Werwölfe, wie auch ihre Entsprechungen in Asien, nicht immer boshaft gegen Menschen gewandte satanische Bestien. Sie dienten oft auch der Kirche zur Verteidigung gegen Ketzer. Im Jahr 617 überfielen Werwölfe ein Kloster und zerfetzten etliche Mönche, die abweichende Meinungen pflegten. Es wird berichtet, dass im frühen 16. Jahrhundert Wölfe von Gott ausgesandt worden sein, um dem gotteslästerischen Verhalten von Soldaten der Armee von Urbino Einhalt zu gebieten, die den Kirchenschatz von Loreto stehlen wollten. Heilige wurden mehrfach von Wölfen gegen wilde Bestien (!) beschützt. Diese Werwölfe wurden als unschuldige und gottesfürchtige Personen angesehen, die unter dem bösen Zauberer anderer litten. So ging es auch vielen Prinzen und Prinzessinnen, die in den Märchen der indo-germanischen Völker als Wölfe auftreten. Sobald aber ein solches Wertier Menschen verletzte, war es verflucht diese Form für immer zu behalten. Magier und Priester konnten die tierische Gestalt durch verschiedene Mittel, wie zum Beispiel dem Kreuz, austreiben. Das Exorzieren des Werwolf-Fluchs schien dabei erheblich einfacher als das Austreiben des Fuchs eines chinesischen oder japanischen Besessenen. Manchmal reichte es, den Namen des Besessenen drei mal im Namen des Vater, des Sohnes und des Heiligen Geistes auszurufen, oder die Stirn des Besessenen dreimal mit einem Messer zu schlagen.

Dieser etwas längliche Exkurs soll zeigen, dass der gleichen grundlegende Glaube an die Möglichkeit der Gestaltwandlung, mit in der Folge zu missbilligende und manchmal gute Taten, im Westen wie im Osten existierte. In Asien war es oft eine Verwandlung eines symbolhaften (und damit vermenschlichten) Tieres, das menschliche Gestalt annahm. In Mitteleuropa der Lykanthrop, wörtlich "Wolfsmensch", wobei sich ein Mensch die Form eines Tieres, fast immer eines Wolfs, annahm. In anderen Gegenden wird Lykanthropie in der Regel mit dem am "gefährlichsten" Tier des Landes verbunden. In Nordeuropa wird der Platz des Wolfs oft vom Bär übernommen, wie auch zum Teil bei den Ainu im nördlichen Japan. Wir haben die Tiger-Verwandlung in China beschrieben, welche auch in Indien bekannt ist. In Afrika werden Menschen zu Leoparden, Hyänen oder Löwen. In Südamerika zu Jaguar. Aber auch harmlose Tiere wie Rehe kommen als Form der Lykanthropie vor. Dabei ist klinische Lykanthropie aus psychiatrischer Sicht eine krankhafte Einbildung ähnlich der Hysterie oder Schizophrenie, in der der Betroffene glaubt in ein Tier verwandelt zu sein und sich dementsprechend benimmt. Diese Sicht ist demnach verwandt mit der Besessenheit von einem Fuchs (oder einem anderen Tier) im Fernen Osten. Wie die Besessenheit in China und Japan existiert Lykanthropie als Krankheitsbild in vielen weniger entwickelten Kulturen Europas, Afrikas, Indonesiens und so weiter. Manchmal nimmt dabei das Innere des Menschen die Form eines Tieres an, bricht aus und handelt an seiner statt.

Chaki Chan schreibt:

Und manche sollten jetzt nicht den Trugschluss wagen, das Furries und Weres unter Lykanthropie leiden. Lykanthropie ist meist schon krankhaftes "Tiersein" immer und überall. Da ist nichts menschliches mehr im Geist.

o'wolf schreibt:

Ich habe bei der Übersetzung das Wort klinisch hinzugefügt, da der Begriff Lykanthropie generell schon recht schwammig ist. Wobei die Psychiatrie den Begriff meines Wissens aber nicht mehr verwendet, da die klinische Lykanthropie nur eine Beschreibung des Symptoms darstellt, die eigentliche Diagnose aber eine von mehreren sehr unterschiedlichen Krankheiten oder Behinderungen sein wird. So z.B. Schizophrenie, Autismus oder schwere Hirnschädigungen durch Drogenmißbrauch. Siehe zum Begriff auch das Kapitel Was ist ein Lykanthrop? Ein Theriomorph? der Basis-FAQ und für eine ausführliche Diskussion des Phänomens das Buch The Beast Within von Adam Douglas.

Im Grunde könnte es sein, dass die Idee einer Transformation sich aus dem recht weit verbreiteten Glauben schamanistischer Stämme begründet, dass ein Mensch die Gestalt seines Krafttieres annehmen kann. Allerdings, und dies ist ein wichtiger Aspekt, so universell Lykanthropie ist, so sehr vernachlässigt sie die Transformation eines Tieres in menschliche Gestalt. Während der Schamanismus auch diese Möglichkeit beinhaltet, gibt es in unseren Legenden und Aberglauben nur den Vampir, der zur Jagd auf seine Opfer gelegentlich menschliche Gestalt annimmt. Die Bakeru (Verwandlung) von Tiergeistern scheint auf das fernöstliche Asien beschränkt zu sein. Auf der anderen Seite wird die Macht sich in ein Tier zu verwandeln im Fernen Osten hauptsächlich den taoistischen Magiern oder Zauberern in China zugeschrieben. In Japan gibt es volkstümlichen Geschichten dieser Art anscheinend nicht, aber alte Überlieferungen legen die Vermutung nahe, dass bestimmte Häuptlinge der Urbevölkerung als starke Tiere beschrieben wurden. Möglicherweise ein weiterer Link zum Schamanismus.

o'wolf schreibt:

Nun ja. Für mich stellt sich die Frage: was hat dies alles in einem Text über fernöstliche Gestaltwandler zu suchen, zumal die angesprochenen Themen in anderen Teilen der AHWW-FAQ bereits besser und ausführlicher behandelt wurden?