Würde ich wirklich?

Würde ich wirklich?

Dieser Text basiert auf zwei Artikeln, die ich vor einiger Zeit in der Newsgruppe <daff/> innerhalb einer längeren Diskussion veröffentlich hatte. Es ist der Versuch, die Situation in der ich mich sehe, meine Antwort auf die Frage nach meiner Identität, ein wenig abseits der Klischees zu beantworten. Der Ausgangspunkt ist eine Frage: Was würde ich tun, wenn ich meinen Körper tauschen könnte? Was würde ich wählen, den Körper eines Wolfs, oder eine anthropomorphe Form? Wieviel Kenntnis, wieviel Erinnerung meiner menschlichen Existenz würde ich mitnehmen?

Im Gegensatz zu vielen anderen Weres würde ich einen 100% wölfischen Körper wählen, mit allen instinktiven Fähigkeiten eines Wolfs und soviel gelernte Fähigkeiten zum Überleben wie nötig. Vielleicht auch Erinnerungen an meine frühere Existenz, einige wichtige Stationen meines Lebens, wenn ich auch dies Erinnerungen bald nicht mehr richtig einordnen können würde und sie wahrscheinlich schnell verblassen würden.

Bedingung wäre dies aber nicht. Orientierung könnte am Anfang das Gefühl geben, vorher etwas anderes gewesen zu sein was mir schon damals fremd war, und als Wolf erst recht nicht mehr nachvollziehen kann.

Und wenn nichts bliebe? Ich glaube, ein großer Teil der Seele (wie auch immer man sie definieren soll) existiert unabhängig vom Körper. Jedoch wird sie durch den Körper auch geprägt. Es gibt Teile des Bewusstseins, die sie an die Spezies der Körpers gekoppelt; bestimmte kognitive und intellektuelle Fähigkeiten. Andere Teile wiederum scheinen mir davon unabhängig zu sein. Und ein weiterer Teil scheint auf eine "innere" Spezies geprägt. Ob das wirklich so ist, wie eine solche Aufteilung genau aussieht? Ich weiss es nicht. Ist es überhaupt wichtig?

Durch die Augen eines Wolfs

Wenn ich durch die Augen eines Wolfs sehe, ob man soetwas nun als "Shift" bezeichnet oder nicht, nehme ich mich immer noch als "ich" wahr, vieles, wenn nicht alles, von meinem Charakter ist noch da. Jedoch nichts von dem, was mich als Mensch interessiert, spielt eine Rolle. Es ist eine andere Erlebniswelt, nicht mit Worten darstellbar, mit einem vollständig anderen Zeitempfinden, bestimmt von Geruchs- und Höreindrücken mit starker Konzentration auf bestimmte Eindrücke, die ich nicht beschreiben kann. Die optische Perspektive ist -- anders. Ein Großteil dieser Erfahrungen ist für menschliche Begriffe erstaunlich ereignisarm. Ich empfinde sie als normal und überhaupt nicht langweilig. Aber der wichtigste Aspekt ist: in diesen Episoden fühle ich meinen wölfischen Körper als meinen Körper. Als Mensch dagegen habe ich wenig Bezug zu meinem Körper. Das innere Bild und die Realität klaffen schlicht zu weit auseinander.

Weiterhin fehlen mir einfach ein paar Fähigkeiten, die die meisten Menschen instinktiv beherrschen. Es ist mir zum Beispiel unmöglich, ohne Partner mit unendlich viel Geduld und Toleranz, enge Beziehungen überhaupt anzubahnen. Mein ganzes Sozialverhalten ist mühsam und langwierig gelernt, unter sehr viel größeren Mühen als bei anderen Menschen. Wenn ich extrem erschöpft bin, falle ich dann in eigenartiger Weise aus der Rolle, werde unsicher und begehe übelste Faux Pas.

Nun haben viele Menschen Probleme mit ihrer Sozialisierung, die Situation "Tier in menschlichem Körper" ist da eher ein exotischer Grund. Aber die meisten Menschen stecken Menschen stecken es mehr oder weniger unbeschadet weg. Ich empfinde solche Zwischenfälle aber seit früher Kindheit als geradezu traumatisch. Ich wollte lange ein "richtiger" Mensch sein, die Dualität meiner Existenz auflösen noch bevor sie mir überhaupt bewusst wurde. Jedes soziale Versagen war auch ein Rückschlag für diese Bemühungen. Dies wurde erst besser, als ich aufgegeben habe, vollständig Mensch sein zu wollen. Seit ich mich als Wolfsmensch sehe, als ein Wesen mit dem Körper Menschen und der Seele eines Wolfs, das weder vollständig Mensch noch Wolf sein kann und deshalb beides irgendwie vereinen muss.

Die Entwicklung eines Werwolfs

Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass aus dem Symptom "fehlende Sozialisierung" nicht die Ursache gefolgert werden kann. Mein Ausgangspunkt war der, eine Erklärung zu finden für die intensiven, vertrauten Erfahrungen eines anderen Körpers meiner Träume und die Unfähigkeit, mich in meinen menschlichen Körper zu fühlen (auch in Träumen fühle ich diesen nicht). Die Akzeptanz des Wolfs hat lange gedauert, von den ersten intensive Erlebnissen dieser anderen Welt mit sechs oder sieben Jahren fünfzehn Jahre lang. Und erst mit 25 hatte ich die verbliebenen Zweifel soweit aus dem Weg geräumt, dass ich offen über meine Identität reden und schreiben kann. Die Analyse dessen, wie groß die Auswirkung auf mein bisheriges Leben war, folgte erst anschließend.

Was ist die Auswirkung dieser Erklärungs-Versuche auf mein weiteres Leben? Sicher die Erkenntnis, was Selbst-Bewusstsein wirklich heisst. Nur derjenige, der sich selbst, seiner Natur, seiner Identität bewusst ist, ist in der Lage, sein Leben mit der notwendigen Sicherheit zu leben. Dieser Zugewinn an Sicherheit zusammen mit der Unnötigkeit, sich vor anderen und vor allem sich selbst verstecken zu müssen, erhöht das eigene Wohlbefinden ungemein und ermöglicht es erst, sich um andere Dinge zu kümmern als um die Frage "Was bin ich?" Das wiederum erhöht die Selbstsicherheit und gibt Kraft. Egal, wie seltsam auf Außenstehende die Klärung meiner Identitätsfrage wirkt. Ich habe viele andere Erklärungen versucht. Nur diese passt, und die Konsequenzen für mich sind ausschließlich positiv.

Wunsch und Verlangen

Aber zurück zur Ausgangsfrage: wünsche ich mir ein Leben als Wolf? Habe ich da nicht allzu romantische Vorstellungen?

Nein. Es ist kein Wunsch. Es ist ein Verlangen. Verlangen sitzt tiefer, Verlangen ist nicht steuerbar. Hätte ich die Möglichkeit, den menschlichen Körper gegen einen wölfischen einzutauschen, sollten auch etliche äußere Faktoren eine Rolle spielen, die bei maximaler Freiheit ein halbwegs gesichertes Überleben sicherstellen sollen. Ob ich die Kraft hätte, diese Kriterien sinnvoll in meine Entscheidung einzubeziehen? Ich befürchte, dass letztlich das einzige Kriterium, das ich beachten würde, die Erfolgschance der Transformation wäre. Zum Glück ist dies nur ein Gedankenspiel, in die Situation, mich entscheiden zu müssen, werde ich nicht kommen.

Wünsche werden dagegen anhand vieler Kriterien gebildet, oft bewusst. Ich kann mir nicht ernsthaft wünschen, dieses menschliche Leben, das angenehmer nicht sein könnte, einzutauschen. Mir geht es dabei nicht nur "vergleichsweise" gut: im Vergleich zum Großteil von fast 7 Milliarden Menschen geht es mir verdammt gut. Ein Wunsch, etwas anderes zu sein, wäre extrem undankbar. Nein, es ist das Verlangen, meist schwach, manchmal stärker, gelegentlich überwältigend, nach einer anderen Existenz, nach einem Leben als Wolf.

Leben eines Wolfs

Ein Leben als Wolf wäre vermutlich nicht angenehm, insbesondere für ein Wesen, das als Erwachsener in diese Existenz geworfen wird. Teil eines Rudels wird man so nicht, und wenn doch, dann allenfalls als rangniederes Tier. Eine Position als Omega bedeutet zwar nicht notwendigerweise, täglich Prügel einzustecken oder kaum etwas vom Futter abzubekommen. Aber es gibt, wie ja auch bei Menschen, viele Methoden der Demütigung, die mindestens genauso schlimm sind wie körperliche Gewalt. Anderseits kann je nach Rudel und Futterangebot die Einbindung rangniederer Tiere stark variieren: von ständiger Demütigung bis hin zur verantwortlichen Beteiligung an Gemeinschafts-Aufgaben.

Viel wahrscheinlicher wäre es aber, ein ziemlich einsames Leben führen zu müssen. Wölfe in bestehende Rudel zu integrieren funktioniert nur in ganz wenigen Einzelfällen.

Ein Wolfsrudel ist eben ein Familienverband, die Struktur ist recht oberflächlich betrachtet ähnlich der einer menschlichen Großfamilie. Zum Teil mit ähnlichen Problemen und Lösungen, zum Teil mit stark verschiedenen. Wolfsrudel können sich zudem, wenn auch nicht ganz so flexibel wie menschliche Familien, in der Ausgestaltung des Umgangs miteinander deutlich unterscheiden.

Wer sich nach einer starren Rangordnung sehnt, in der jeder seine unstrittige Position hat, sollte doch lieber zum Militär gehen. Die Rangordnung eines Wolfsrudels ist bei weitem nicht so starr, wie sich das viele vorstellen. Unstrittig sind die Positionen sowieso nicht, alleine durch die relativ häufigen Todesfälle und die nachrückenden Jungtiere.

Anderseits ist ein wölfische Leben normalerweise auch nicht ständiger brutaler Kampf, zumindest nicht mehr als das Leben eines Menschen. Ich wage sogar die These, dass die Lebensrealität eines Wolfs einen Menschen nur langweilen würde. Eigene (Ohn-)Machtsfantasien auf Wölfe zu projezieren, wie es in vielen Märchen und Filmen dargestellt werden, wird dieser intelligenten und hochsozialisierten Spezies nicht gerecht.

Bleibt noch die Frage, wie lange ich überleben würde. Keine Ahnung, vermutlich würde ich nach wenigen Jahren an einer chronischen Lungenentzündung sterben. Wölfe erreichen in der Natur selten ein Alter über neun Jahre, die Sterblichkeit von Jungtieren innerhalb der ersten zwölf Monate ist erheblich (ca. 50% bis 60%), je nach Region, Nahrungsangebot und Wetter ist das Durchschnittsalter in einem Rudel vier bis sechs Jahre. Das berücksichtigt noch nicht die Bejagung durch Menschen.

Von Menschen und Wölfen

Das Leben eines Wolfs ist nicht per se schöner, besser, einfacher oder leichter als das eines Menschen. Es kommt hier wie dort auf die Umstände an, vor allem auf die soziale Gruppe, in der man lebt. Wobei man als Mensch in Mitteleuropa sehr gute Chancen hat, sich seine soziale Gruppe aussuchen zu können. Ein Wolf kann dies meistens nicht: die Alternativen sind entweder seine Familie oder Einsamkeit.

Eine solche Existenz ist also nicht romatisch. Und das ist auch der Grund, warum ich es mir so lange schwer gemacht habe: einerseits passten die Erlebnisse nicht zu den romantischen Klischees über wölfisches Verhalten, die ich damals kannte, anderseits befürchtete ich, genau diese unterbewusst doch zu suchen. Erst die Beschäftigung mit der Fachliteratur über Wölfe, welche fast vollständig meine Erlebnisse bestätigte, gab mir Sicherheit.

Und um ehrlich zu sein, wenn ich es mir wildromantisch vorstelle, dann fühle ich mich als Schauspieler in einem alten Heimatfilm. Im Gegensatz zu meinen Erlebnissen wirkt das auf mich garnicht mehr authentisch.

Schlusswort

Ich hoffe, einen kleinen Einblick in meine Natur und meine Ansichten gegeben zu haben. Natürlich ist dies überhaupt nur annähernd nachvollziehbar für jemanden, der selbst in der Situation ist, sich einer anderen Spezies zugehörig zu fühlen. Zu verstehen ist es nicht, ich verstehe es ja selbst nicht wirklich. Und ein Wort der Warnung sei auch noch angebracht: dies alles funktioniert für mich, es gibt viele Ausprägungen von Therianthropie. In keiner Weise ist es ein Versuch, Therianthropie oder Spezies Dysphorie allgemein zu erklären. Wer sich in meinen Ausführungen wiederfindet, darf es sich nicht so leicht machen und meine Gedanken zum Thema unkritisch übernehmen. Es gibt durchaus erstaunliche Parallelen zu einigen anderen Tiermenschen, die ich kennen gelernt habe. Und keine einzige wiederum zu anderen.

Und die Leser, die dies alles für völligen Unsinn halten, mögen bedenken, dass sie nicht in meiner Haut stecken. Allerdings kann ich die Skepsis durchaus verstehen, zu ungewöhnlich und unbekannt ist dies alles, zu wenig nachvollziehbar für Menschen außerhalb dieser Situation. Zudem ist es schlicht unmöglich, die emotionalen Aspekte zu kommunizieren. Konkrete Fragen beantworte ich gerne, soweit es meine Zeit erlaubt. Ich bin immer auch an konträren Ansichten interessiert.